Sozialstaat – Begriff und Ausprägung in Deutschland
S. bezeichnet die Ausrichtung staatlicher Aktivitäten auf die Schaffung sozialer Rechte zur Sicherung gegen soziale Risiken im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Als generelle Sozialbindung öffentlichen Handelns beinhaltet der S. die politische Überformung der Marktprozesse nach Maßstäben sozialer Gerechtigkeit. S. ist insofern ein normativ gehaltvoller Begriff, da sich im S. die gesamte staatliche Intervention auch an Kriterien wie Vermeidung von Armut und Not, Gerechtigkeit und Verringerung sozialer Ungleichheit bemisst.
In diesem Verständnis umfasst der S. mehr als Sozialpolitik (→ Sozialpolitik). Nicht nur die Armuts- und Grundsicherungspolitik, das Arbeitsrecht und die Tarifautonomie, die klassischen Felder der Sozialversicherungspolitik (Alter, Gesundheit, Pflege, Arbeitslosigkeit, Unfall) und die Bereiche der Jugend-, Kinder-, Familien-, Inklusions- und Geschlechterpolitik sind Teil staatlichen Handelns. Vielmehr ist das gesamte staatliche Handeln unter dem Gesichtspunkt des Sozialen zu steuern. So ist insbesondere die progressive Einkommensteuer ein zentrales Politikinstrument. Bildungs- und Wohnungspolitik sind als Feld sozialstaatlichen Handelns jüngst stärker in den Blick geraten.
Der Begriff S. wird in Deutschland auch zur bloßen Beschreibung der Gesamtheit sozialpolitischer Maßnahmen verwendet. International hat sich dafür der Terminus „welfare state“ durchgesetzt. Empirische und normative Begrifflichkeit stehen in einem engen Zusammenhang, aber auch Spannungsverhältnis. Der Staat D kann nur als S. bezeichnet werden, wenn Mindestansprüche der Armuts- und Ungleichheitsvermeidung sowie der Beförderung sozialer Gerechtigkeit erfüllt werden. Im Namen des normativen Anspruchs kann das gegebene Institutionensystem kritisiert werden, im Namen der Empirie kann aber auch ein normativer Anspruch als überzogen zurückgewiesen werden. Begriff und Realität des Sozialstaates sind daher weiterhin politisch umstritten.
Die Bezeichnungen „S.“ und „Wohlfahrtsstaat“ werden erst seit dem Zweiten Weltkrieg verwendet. Staatliche Interventionen zur sozialen Sicherung in eine industrialisierte Marktökonomie haben dagegen eine weit in das 19. Jh. zurückreichende Geschichte. Seit dem Vormärz wird über die „soziale Frage“ bzw. „Arbeiterfrage“ debattiert, kulminierend in den Bestrebungen der Arbeiterbewegung zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft. Dem stand das staatszentrierte und sozialintegrative Konzept sozialer Reform und sozialer Demokratie bei Lorenz von Stein gegenüber, der als Begründer des Sozialstaatsgedankens gilt. Mit der Einführung der Arbeiterversicherungen unter dem Reichskanzler Bismarck wurden die Grundlagen der in D dominanten Tradition des Sozialversicherungsstaates gelegt. Die Etablierung der beitragsfinanzierten Sozialversicherungen in den 1880er-Jahren wird häufig auch als weltweiter Beginn sozialstaatlicher Entwicklung angesehen. Ausgehend von den bereits in der Weimarer Republik entwickelten Theorien Eduard Heimanns und Hermann Hellers bürgerte sich in den 1950er-Jahren Begriff und Konzept des „S.s“ in D ein. In Deutschland wird, wie in etlichen anderen Ländern auch (Béland und Petersen 2015), der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ in der politischen Öffentlichkeit eher vermieden. Zu sehr vermittelt er das Bild eines alles allumsorgenden und bevormundenden Staates, eines „nanny state“ oder „Versorgungsstaates“. Seine Herkunft lässt sich allerdings auf die deutschen Kathedersozialisten (insbesondere Adolph Wagner) im späten 19. Jh. zurückführen.
Die Sozialreformen in den USA seit 1935 unter F.D. Roosevelt und in Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die völkerrechtliche Anerkennung der „sozialen Sicherung“ durch Deklarationen der International Labour Organization (ILO-Konferenz Philadelphia 1944), in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und schließlich im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahre 1966 bildeten die Grundlage der weltweiten Verbreitung des S.s. Mit diesen Deklarationen wurden Sozialleistungen als universelle soziale Rechte anerkannt und den Staaten auferlegt, für die Sicherung dieser Rechte und die soziale Gestaltung der gesamten Politik zu sorgen (Nullmeier und Kaufmann 2019).
Der S. ist im Grundgesetz mit den Formulierungen „sozialer Bundesstaat“ (Art. 20,1) sowie „sozialer Rechtsstaat“ (Art. 28,1) als allgemeine Staatszielbestimmung verankert. Das Gemeinwesen wird durch dieses Sozialstaatgebot zur Förderung sozialer Gerechtigkeit als allgemeiner Richtschnur der Erfüllung aller öffentlichen Aufgaben verpflichtet. Das Grundgesetz lässt es zu, den Sozialstaat sowohl auf dem Weg eines „sozialen Kapitalismus“ als auch eines „demokratischen Sozialismus“ zu verwirklichen. Politisch hatte sich bereits in den frühen 1950er-Jahren die erste Version unter dem Begriff „soziale Marktwirtschaft“ durchgesetzt. Eine juristisch-schulmäßige Definition des S.s fehlt allerdings bis heute. Prinzipiell wird die Offenheit des Sozialstaatsprinzips betont, wonach es dem Gesetzgeber obliegt, die angemessenen Mittel und Wege zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit zu bestimmen (Zacher 2013).
Ebenso offen ist die Frage, wer die sozialstaatlich verantworteten Regelungen umsetzt. Die Verpflichtung zur Schaffung sozialer Sicherheit richtet sich an den Staat, dieser muss aber nicht alle Maßnahmen und Leistungen in eigener Regie durch eigene Behörden erbringen. Mit den Sozialversicherungen sind öffentlich-rechtliche Körperschaften gebildet worden, die von Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (z. T. unter Einbeziehung des Staates) selbstverwaltet werden. Es ist ein Kennzeichen des dt. Sozialstaates im Bereich der sozialen Dienstleistungen mit den Wohlfahrtsverbänden und zunehmend auch mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und mit Sozialunternehmen zu kooperieren. Der S. hat in diesen Feldern nur die Aufgabe der Gewährleistung sozialer Rechte sowie der Sicherung hinreichender finanzieller und organisatorischer Rahmenbedingungen.
Das Verhältnis zwischen S. und Markt wurde traditionell so interpretiert, dass der S. jene Dimension öffentlich-politischer Aktivitäten bezeichnet, die auf den Ausgleich und die Abmilderung problematischer Folgewirkungen des Marktes gerichtet sind. Insofern konnte S. als Gesamtheit staatlicher Einrichtungen, Steuerungsmaßnahmen und Normen begriffen werden, mittels derer Lebensrisiken und soziale Folgewirkungen einer kapitalistischen Ökonomie aktiv politisch bearbeitet wurden, ohne die Marktwirtschaft selbst in Frage zu stellen. Da der Marktprozess neben der effizienten Versorgung mit Gütern auch für eine Vielzahl sozialer Risiken und Problemlagen sorgt, bedarf es des S.s als eines kompensatorischen Systems zur Vermeidung von Armut, Not und gravierender sozialer Ungerechtigkeit. Freiheit ist unter Bedingungen der Marktwirtschaft nur durch Sozialstaatlichkeit zu sichern (Nullmeier 2000).
Das Verständnis von Sozialstaatlichkeit hat sich in den letzten 25 Jahren aber deutlich verändert. Der Ausgleich von Folgewirkungen der Marktwirtschaft wird heute ergänzt um die Komponente einer aktiven Befähigung für den Arbeitsmarkt und den Marktwettbewerb: Mit Begriffen wie „aktivierender Staat“, „präventiver S.“ und „investiver S.“, wird die positiv auf den Markt bezogene Seite des S.s betont. Danach bezeichnet S. die Politiken, die auf die Integration und Inklusion in den Marktprozess gerichtet sind. Die Befähigung zur Teilhabe am Arbeitsmarkt gilt als Stärkung des Wirtschaftsprozesses qua Investition in Humankapital, zum anderen aber auch als präventive Maßnahme, um die Betroffenheit durch Marktrisiken wie Arbeitslosigkeit zu verringern. Damit werden Maßnahmen der Bildungspolitik von der frühkindlichen Bildung bis zum lebenslangen Lernen zu zentralen Feldern sozialstaatlichen Handelns.
Die international vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung bezeichnet D wegen seiner Sozialversicherungszentrierung und der bis in die 1990er-Jahre wenig ausgeprägten frauen- und familienpolitischen Komponenten als „konservativen“ S. im Unterschied zum „liberalen“ (angelsächsischen) und „sozialdemokratischen“ (skandinavischen) Wohlfahrtsstaatstyp (Esping-Andersen 1990). Diese Differenzierung von „welfare regimes“ bzw. Sozialstaatstypen erfasst nur die Gründungsmitglieder der OECD und lässt sich nicht ohne typologische Erweiterungen für die süd- und ostmitteleuropäischen Sozialstaaten oder die Sozialpolitiken im Globalen Süden anwenden. Die Sozialstaatstypen sind geprägt von jahrhundertealten Entwicklungslinien, zu denen auch die religiösen Spaltungen und divergierenden kirchlichen Organisationsformen seit der Reformation zählen. Der deutsche S. ist geprägt von der gemischt-konfessionellen Konstellation mit einem staatsnahen Protestantismus und einer starken Verankerung des Katholizismus in der Arbeiterschaft samt hohem Einfluss der katholischen Soziallehre. Er ist zudem gekennzeichnet durch die starke Stellung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, den Vorrang erwerbsarbeitsbezogener Sozialversicherungssysteme und die kollektiv-vertraglichen Regelungen des Arbeitsrechts als staatlich geschützter Sphäre verbandlicher Sozialgestaltung. Politisch wird der dt. S. getragen von der sozialpolitischen Kooperation zwischen SPD und CDU/CSU (nicht nur in Zeiten Großer Koalitionen) sowie der institutionalisierten Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden als Sozialpartnern, die als Korporatismus bezeichnet wird (Obinger und Schmidt 2019).
- Enseignant: nadia bensmicha